Das Paradox der Liebe

Sind wir nur mit einem Partner vollkommen?

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Für die Liebe gibt es viele Metaphern. Man ist beispielsweise angekommen oder endlich vollständig. Das fehlende Puzzleteil ist gefunden, der Topf hat seinen Deckel. Liebe als Vervollständigung der eigenen Persönlichkeit. Das Paradoxe daran ist jedoch, dass wir Eigenschaften des Partners, die wir in uns selbst nicht finden, nur unter allergrößten Mühen-wenn überhaupt – akzeptieren können. Besser wäre es, er ist wie wir. Ein Seelenverwandter. Wie ist diese paradoxe Liebe möglich?

Der Beziehungsprozess: Vom rosaroten Schleier zur harten Realität

Um uns einer Lösung der paradoxen Liebe zu nähern, müssen wir den Beziehungsprozess in seiner Gesamtheit beobachten. Zunächst ist doch einfach nur alles schön. Die offene Zahnpastatube wird als liebenswürdige Besonderheit wahrgenommen, gelegentlich mal zu spät kommen, ist doch nicht so schlimm. Auch die zeitintensive Fußballleidenschaft lässt sich schon in die Beziehung integrieren. Allmählich – Sie kennen das vermutlich – schleicht sich dann die Realität nach vorn und pustet den Schleier einfach weg. Man findet Dinge, die einen beim anderen stören. Und das Paradoxerweise sind das genau die Dinge, an denen es uns selbst gemangelt hat und die wir durch den Partner in uns integrieren wollte.

Projektion: Eine wissenschaftliche Annäherung an die paradoxe Liebe

Für den genannten Prozess gibt es einen wissenschaftlichen Fachbegriff: Projektion. Die schlechte Nachricht ist: Selbst Trennungen lösen da das eigentliche Problem der paradoxen Liebe nicht. Denn auf der Suche nach dem „fehlenden Puzzleteil“ werden wir uns im Rahmen der unerlösten Projektion immer wieder für einen Partner mit genau den gleichen Eigenschaften entscheiden. Es gibt dafür nur eine einzige Lösung: Die eigene Persönlichkeit als vollständiges Ganzes zu akzeptieren, sie anzunehmen und nicht mehr auf die Suche nach einem Menschen zu gehen, der das eigene, mangelhafte Wesen vervollständigen muss.

Hinweis: Mehr zum Thema Projektion können Sie in diesem Beitrag Paradoxon lesen.

Nähe. Distanz. Nähe. Distanz. Nähe. Distanz. Ein Drama in unendlich vielen Akten.

Bleibt das Problem unerkannt, beginnt das Nähe-Distanz-Spiel. Sucht der Partner Distanz, sehnt sich der andere nach Nähe. Es entsteht ein Machtkampf. Die Waffe der Frau: Sexuelle Verweigerung. Die Waffe des Mannes: geordneter Rückzug in die Fußballkneipe.  Wie kann man diesem Kreislauf entkommen? Indem man Konflikte nicht meidet wie ein Buschfeuer, sondern sich mitten hineinbegibt in das Auge des Feuers. Aus Konflikten lernen ist wohl die effektivste Art, sie im Folgenden auch wieder zu vermeiden. Nur wenn beide Partner Konflikte als Teil der Beziehung annehmen, an der diese wachsen kann, hat sie eine reale Chance.

Das Paradox der Liebe ist eng mit dieser Konfliktauffassung verbunden. Denn wir neigen oft intuitiv dazu, die Ursache eines Konfliktes natürlich im Partner zu sehen. Du bist schuld daran, dass wir uns jetzt streiten. Oftmals hat den Schmerz, auf den wir reagieren, jemand anderes zu einer viel früheren Zeit ausgelöst – wir sehen in dem Partner nur den Auslöser, den Schuldigen.

Es ist wichtig, in die Vergangenheit zu schauen und nach dem tatsächlichen Brandherd zu suchen, bevor wir uns mitten ins Feuer stellen und versuchen, es zu löschen.  

Nähe und Distanz: das Kernproblem in einer Partnerschaft

Kennen Sie auch dieses eine Paar im Freundes- und Bekanntenkreis, das behauptet, jede Sekunde des Tages gerne mit dem anderen zu verbringen und weder eigene Freunde noch eigene Hobbys zu haben?

Ich behaupte, dass die meisten Partnerschaften auf Dauer so nicht gelingen, denn eine Partnerschaft lebt vom Wechsel zwischen Nähe und Distanz. Ich möchte aber auch anmerken, dass es nicht unmöglich ist. Es gibt tatsächlich Paare, die eine symbiotische Liebesbeziehung leben. Wenn BEIDE dies wollen, ist es natürlich ok. Hier möchte ich aber die Frage in den Raum stellen: „Sind das nicht in Wirklichkeit zwei ängstliche Menschen, die sich ständig unter Beobachtung haben wollen?“ Es ist nun mal Fakt: Wer alles miteinander macht, weiß auch immer, was der andere tut.  Die meisten Paare können und wollen keine symbiotische Beziehung führen. Es braucht den Wechsel, es braucht die Dualität.

Zeiten der Leidenschaft, die auch von dem Wunsch geprägt sein dürfen, jede Sekunde mit dem anderen verbringen zu wollen, folgen zwangsläufig auch Phasen der Abgrenzung und der Distanz. Wer drei Tage mit dem Partner kuschelnd im Bett verbringt, möchte spätestens am vierten Tag mal wieder einen anderen Menschen sehen. Jetzt kommt es darauf an, wie der Wunsch nach Distanz vom anderen bewertet wird. Empfindet auch er die Sehnsucht, mal wieder einen Abend mit Freunden zu verbringen, oder wertet er den Distanzwunsch des Gegenübers als Ablehnung und persönliche Kränkung?

Größtenteils gilt die Regel: Nähe schafft Distanz, Distanz schafft Nähe.

Die Geschlechter reagieren oftmals unterschiedlich auf den Rückzug des anderen. Frauen distanzieren sich häufig durch sexuelle Verweigerung, Männer bleiben länger im Büro oder verbringen mehr Zeit mit ihrem Hobby. Oft entsteht daraus ein Machtkampf, in dem die Grenzen abgesteckt werden und sich jeder den Raum nimmt, den er benötigt. Werden daraufhin die gemeinsamen Räume kleiner und der Rückzug in die eigenen Räume immer größer, folgt daraus meistens die Trennung oder man arrangiert sich eben. Im ungünstigen Fall ergibt sich eine Beziehung, die von Kämpfen und persönlichen Verletzungen geprägt ist.

Damit eine Beziehung die Nähe-Distanz-Problematik aushalten kann, ist es wichtig, dass beide Partner akzeptieren, dass Konflikte zu einer Partnerschaft dazugehören und ein wichtiger Teil der Weiterentwicklung ist. Beide sind hier gefragt, herauszufinden, welchen Anteil sie jeweils am Konflikt haben und wie sie dazu beitragen können, ihn zu lösen. Die Akzeptanz von Konflikten befreit die Beziehung von dem Druck, dass alles perfekt sein muss. Es geht nicht darum, sie unter allen Umständen zu vermeiden, sondern sie in Lernmomente zu verwandeln, an denen jeder einzelne und die Partnerschaft wächst.

Paradoxe Liebe: Die Wunden und Abhängigkeiten in der Partnerschaft

In der Paarberatung erlebe ich oftmals große Abhängigkeitsdramen. Der eine Partner klammert und will immer mehr. Der andere zieht sich zurück und sehnt sich nach Freiheit. Genau diese Situation legt zwei zentrale Wunden frei:

  1. Die Verlassenheitswunde
    Die Abstandsreaktion des einen auf die intensiven Annäherungsversuche kann sehr verletzend sein. Man will mehr, ohne es zu bekommen. Stattdessen spürt man Ablehnung.
     
  2. Die Verschlingungswunde
    Auch auf der Gegenseite führt das Abhängigkeitsproblem zu Wunden. Man benötigt Luft zum Atmen und wird stattdessen erstickt.

Beide Wunden in einer Beziehung sind schwer zu stillen. Wie kann eine Beziehung dennoch gelingen? Indem wir den Fokus nicht auf den anderen und seine Probleme, seine Fehler und Defizite richten, sondern auf uns selbst schauen. Erkennen, was für das eigene Wachstum wichtig ist. So kann sich das Paradox der Liebe am Ende zum Guten auflösen.

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