Lüge und Mythos 5
„Ich möchte noch mal 14 sein“. Hinter diesem Wunsch steht oft der Gedanke an das erste Verliebtsein. Alles ist aufregend, neu und intensiv. Liebe und Sexualität haben im allgemeinen Verständnis etwas Jugendliches. Nach den späteren, runden Geburtstagen sollte das Interesse dann woanders liegen. Es gibt doch schließlich auch gute Kegelclubs in der Nähe … Sie ahnen schon: Liebe unterliegt keinen festgeschriebenen Altersgrenzen. Sie findet zu jeder Zeit in jedem Alter statt. Auch ein Hundertjähriger kann leidenschaftlich lieben und Sexualität erleben – es gibt eben ganz unterschiedliche Ausprägungen davon. Sicherlich ist die reine Penetration von der Funktionalität der Geschlechtsorgane abhängig, die mit steigendem Alter häufig nachlässt.
Aber: Wir haben bereits festgestellt, dass Sexualität auch aus Berührungen, Küssen und intensiven Momenten der Nähe bestehen kann. Und trotzdem sehen wir auf der Titelseite der Zeitschrift mit der Titelstory über die Langzeitliebe ein junges Paar, das verliebt in der Blüte seines Lebens steht. Vielleicht kommt diese Wahrnehmung daher, dass tatsächlich in vielen Langzeitbeziehungen keine oder kaum noch Sexualität und leidenschaftliche Liebe stattfindet. Aus Liebe ist Gewohnheit geworden, und die berühmte Zahnpastatube entfacht die Leidenschaft im Streit. In diesen Beziehungen findet Sexualität eher aus Gewohnheit statt. Man könnte es auch Resignation nennen. Es ist eben der Lauf der Dinge, dass die Liebe mit dem Alter abnimmt und mit ihr die Leidenschaft – so die allgemeine Meinung. Aber das ist falsch. Liebe und Sexualität sind keine abflachende Sinuskurve. Die Liebesfähigkeit ist eine sinnliche Erfahrung, die wir schon in der Kindheit ganz allein, ohne fremde Hilfe erlernen. Niemand bringt uns bei, wie wir uns zu freuen haben, wenn wir zum ersten Mal einen Regenbogen sehen, einen Schmetterling fangen oder ins Meer springen. Wir nehmen die Welt über Gerüche, Empfindungen und taktile Reize wahr. Dafür benötigen wir keine Schulungen und Seminare. Es gelingt uns von frühester Jugend an, uns intuitiv mit unserer Umgebung und unseren Mitmenschen vertraut zu machen. Nach diesem Prinzip funktioniert es auch in der Sexualität – und das vollkommen altersunabhängig.
Die Relevanz der Sensitivität für die Liebesfähigkeit im Alter
Während Kinder noch ganz „jungfräulich“ die Welt erkunden, sind wir Erwachsenen häufig desensibilisiert. Wir gehen unseren Weg am Morgen anblickenden Werbetafeln vorbei, werden im Auto oder in der Bahn mit Nachrichten und Spots berieselt und müssen uns dauerhaft mit einer nicht nachlassenden Informationsflut auseinandersetzen. Da fällt die kleine Blume am Wegesrand oft einfach nicht mehr ins Auge. Diese Entwicklung ist ein Grund, warum die Liebesfähigkeit älteren Menschen häufig abgesprochen wird. Sie sind übersättigt von den Reizen der Welt, ihre Sinne sind mit den Jahren abgestumpft. Raum und Zeit, um zum ersten Mal in diesem Jahr den Frühlingswind zu riechen, bleibt da nicht. Es gibt diesen einen Punkt, an dem ein Glas voll ist. Es passt kein einziger Wassertropfen mehr hinein. So voll sind häufig die Köpfe der Menschen, die sich mit alltäglichen Sorgen rund um Finanzen, Versicherungen und Arbeit auseinandersetzen müssen. Die Sensitivität ist an dieser Stelle der Tropfen, der nicht mehr hineinpasst in das Glas voll Wasser. Das ist der Grund, warum sich die Liebesfähigkeit im Alter wandelt. Es fehlen frische Sinne, die bereit sind, neue Gerüche, Berührungen, Blicke aufzunehmen, um sich an ihnen zu erfreuen. Dieser Entwicklungsprozess ist für viele Menschen eine Tatsache. Daher ist die Liebesfähigkeit keine Frage des Alters, sondern eine Frage nachlassender Sensitivität. Wer sich bis ins hohe Alter diese Fähigkeit bewahrt – oder sie dann aufs Neue entdeckt – kann genauso lieben wie die Jugend. In einem alten Körper kann ein junger Geist wohnen.
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