Lüge und Mythos 10
In den letzten hundert Jahren wurde viel für die Befreiung der Sexualität und den Bruch herrschender Tabus bewirkt. Männer dürfen nun auch mit Männern ganz legal Sex haben, und die körperliche Liebe bleibt nicht länger nur auf zwei Menschen beschränkt. Jetzt sind wir frei – wir dürfen tun und lassen, was wir wollen. Das macht uns glücklich. Im Leben und auch in der Liebe. Es waren Sexualwissenschaftler wie Sigmund Freud, die diese Aufklärung in der Gesellschaft angestoßen und sich dafür eingesetzt haben, dass sich Individuen auch in Sachen Sexualität frei entfalten können. Ihr Ziel war es, dass Menschen sich sexuell entfalten, freier werden, Triebe ausleben und dadurch glücklicher werden. Wenn man jedoch genauer hinsieht, stoßen wir auf mindestens zwei wesentliche Aspekte, die davon unberücksichtigt geblieben sind:
Erstens ist die Sexualität nur ein Teil unserer Persönlichkeit. Selbst wenn sie sich vollständig befreit entfalten kann, muss sich beispielsweise auch die seelische Liebesfähigkeit weiterentwickeln, damit wir von „Freiheit“ sprechen können.
Zweitens haben die Psychoanalytiker lediglich die Einstellung des Einzelnen zu seiner eigenen Sexualität, nicht aber die Gesellschaft an sich befreit. Geht heute ein gleichgeschlechtliches Paar durch ein kleines, idyllisches und weit abgelegenes Dorf, werden sie trotz aller Befreiungsversuche schiefe Blicke ernten. Eröffnete eine Tochter ihren Eltern, sie würde jetzt mit zwei Männern gleichzeitig zusammenleben, wären die Reaktionen in der Regel auch weit entfernt von überschwänglicher Freude. Was bedeutet dies also? Wer wirklich frei sein will, darf dies nicht allein an der Sexualität festmachen. Und Freiheit in der Liebe entsteht nur dann, wenn Sexualität und Liebe nicht als gemeinsames Ganzes wahrgenommen werden. Es ist eine Frage der Erwartung. Wer erwartet, dass eine freie Sexualität auch den Menschen freimacht, wird zwangsläufig enttäuscht werden.
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