Vom dauernden Begehren

Lüge und Mythos 14

Wenn das sexuelle Interesse am Partner schwankt oder nachlässt, darf dies nicht zugegeben werden, weil nach der Idealvorstellung dann gleich das Ende der Beziehung droht: Eine Beziehung, in der Sexualität eine geringe oder keine Rolle spielt, ist ja angeblich keine richtige, funktionierende, wahre, lebendige, echte, partnerschaftliche oder ganz personale Liebe. Und genau das wollen doch alle! (Sehen Sie hierzu auch Teil 6 „Lust, Sex und Liebe“.)

Daher darf das Begehren nicht nachlassen, und es wird viel Mühe zu seinem Erhalt aufgewendet, wie folgendes Beispiel eines 35-jährigen Mannes zeigt: „Am Anfang haben wir oft und gern miteinander Sex gehabt. Da bin ich noch ganz auf sie abgefahren. Dann begannen Schwankungen, oder insgesamt hat die Lust nachgelassen. Sie wollte aber weiter begehrt werden, ohne mich zu begehren. Sie hat mich nicht angegriffen, wie ich das aus vorigen Beziehungen kenne, sondern hat gelitten und geweint, erzählt, wie sehr sie es vermisst und wie sehr sie es braucht. Das war schlimm für mich. Ich habe dann mit ihr geschlafen, war aber nur halb, dann immer weniger dabei. Bis ich mir vorkam wie ein Prostituierter. Eines Nachts haben wir zusammen geschlafen, und es war sogar mal wieder ganz schön. Am nächsten Morgen hat sie mich dann gefragt: ,Sag mal, haben wir eigentlich gestern miteinander geschlafen?‘ Sie hatte es schon vergessen, es war wieder nicht genug. Da ist mir die Hutschnur gerissen, und ich habe Schluss gemacht.“

Der Mann beendete die Beziehung nicht deshalb, weil seine Partnerin die sexuelle Begegnung in der Nacht vergaß, sondern weil seine Lügen sich als zwecklos erwiesen hatten, weil die anstrengenden Beweise seines Begehrens ihm nicht die ersehnte Ruhe und Harmonie verschafften. Weil die ganze Mühe umsonst gewesen war.

Zwar liegen die psychischen Anteile dieses Konfliktes auf der Hand: Indem sie begehrt werden will, fordert sie seine Liebesbeweise ein. Er will Begehren zeigen, weil man dies dem Partner vermeintlich schuldet und weil dies angeblich Liebesbeweise sind. Nur dann entspricht man dem Beziehungsideal, und die Beziehung kann „in Ordnung“ gehalten werden. Und sicherlich würde eine Therapie hier helfen, solange sie die Partner unterstützt, sich von falschen Idealen und daraus resultierenden Zwängen zu befreien. Aber eben nicht, wenn die Therapie das Begehren erhalten, garantieren, zurückbringen oder sogar steigern will oder soll.

Sex und Begehren als Liebesbeweise ‒ das ist in der Tat ein Ergebnis totaler Sexualisierung der Lebenspartnerschaft. Auch Frauen lügen ähnlich wie der oben zitierte Mann.

Eine Frau etwa verspürte wenig sexuelle Lust. Trotzdem ließ sie sich auf sexuelle Handlungen ein, „erlaubte“ dem Mann sogar, „um ihn nicht zu frustrieren“, in sie einzudringen. Doch diese geschah nicht „ihm zuliebe“, sondern um ihn zu halten und zu binden, aus Angst also, er könnte gehen. Wirkliches Begehren stand nicht dahinter, und daher war dies eine Spielart der Partnerlüge. Wobei zu bemerken ist, dass dies eine in vielen Fällen und sehr gefährliche Partnerlüge ist. In der Praxis verrieten mir Männer, dass die Ehefrauen ihnen während des Aktes die Zunge herausstreckten oder einen Apfel aßen. Eine solche Demütigung des Mannes bleibt gewöhnlich nicht unbeantwortet. Es beginnt ein gefährlicher Kreislauf.

Eine andere Frau erzählte, wie sie ihren Mann dazu bringt, den Liebesakt zu verkürzen. „Ich stöhne dann und flüstere, ‚komm - ich möchte deine Sahne in mir spüren‘. Er glaubt dann, ich stünde kurz vor dem Orgasmus, und gibt Gas, und dann ist es gleich vorbei.“ Auch diese Partnerlüge ist gefährlich, denn an beliebiger Stelle steigt hier der Pegel der inneren Wut bei der Gastgeberin. Es kann natürlich auch sein, dass die Frau materielle Vorteile aus der Beziehung hat und sie einfach mit Freude ein Theaterstück vorspielt, weil es ein lohnendes Honorar nach sich bringt. Was beide Frauen machen, ist letztlich Prostitution. Dies sollte jedoch nicht negativ bewertet werden. Erlaubt ist, was beide wollen.

In Lebenspartnerschaften finden sich Lügen vorgetäuschten Begehrens gar nicht so selten.

Solche Partnerlügen aufrechtzuerhalten, bedeutet für Frauen und Männer jedoch eine große Anstrengung, die letztlich vergeblich ist. Denn Begehren ist eine Form der Gier, und Gier ist auf das Versprechen angewiesen, ihre unbewussten Sehnsüchte würden durch Sexualität befriedigt werden.

In der Dauerpartnerschaft dauerhaft gierig genug zu bleiben, ist indes eine echte Schwierigkeit. Denn worin sollte das besondere Versprechen bestehen nach einigen Jahren und einigen hundert oder tausend Malen? Welcher Quelle sollte die Gier entspringen? Daher haben sogenannte „sexuell perverse“ Menschen eine größere Chance, ihr Begehren aufrechtzuerhalten. Sie hungern stärker nach Befriedigung, weil sie ihre psychischen Konflikte stärker sexuell maskieren, in Leder, in Plastik, mit der Peitsche. Dadurch leiden sie tiefer, wenn ihre Bedürfnisse nicht befriedigt werden.

In der harmonischen Lebenspartnerschaft kommt es zum Schwund des Begehrens und aus Erwartungs- und Verlustangst muss dies geleugnet werden, vor dem Partner und vor sich selbst.

Ein Klient, der selbst über nachlassende Leidenschaft in seiner Beziehung klagte, erzählte mir von einem Freund. Dieser scheue sich nicht, manches Mal mitten im Akt aufzuhören, nur, weil er keine Lust mehr verspüre. „So etwas“, betonte mein Klient aus tiefster Überzeugung, „das könnte ich meiner Frau niemals antun.“ Dieser Mann wird also stets durchhalten und die Sache zu Ende bringen, selbst wenn er keine Lust mehr haben sollte. So klingen die Lügen vom Begehren: Natürlich begehre ich dich, ich liebe dich doch! Könnte ich dich lieben, wenn ich dich nicht begehren würde? Und andersherum: Wenn du mich lieben würdest, dann würdest du mich auch begehren und mit mir Sex haben wollen und nur von mir träumen! Der arme Kerl. Die arme Frau. Die arme Beziehung. Er tut es ihr zuliebe, um eines Tages zu erfahren, dass sie es ihm zuliebe tat. Lügen um Erfüllung und Frustration.

Man könnte endlos Geschichten aufzählen von Frauen und vorgetäuschten Orgasmen und Männern, die angestrengt ihre Potenz beweisen und anderen Schwindeleien. Die erotische Verpflichtung, das unausgesprochene Versprechen gegenseitiger sexueller Erfüllung lastet schwer auf den Gemütern der Partner.

„Für deine sexuelle Erfüllung fühle ich mich nicht verantwortlich“ ‒ einen solchen Satz auszusprechen oder zuzugeben, dass man sich den Anforderungen einer Sexualität im Dienste der Paarbindung auf Dauer nicht gewachsen und daher überfordert fühlt. Dies fällt ungeheuer schwer, denn es steht einiges auf dem Spiel. Spontan würde der Einwand auftauchen: „Wenn es mit dem Sex nicht klappt, wozu habe ich dann eine Partnerschaft?“

Es darf nicht sein ‒, weil an Beziehungen so extrem hohe Ansprüche gestellt werden. Jeder Partner soll sich für die sexuelle Erfüllung des anderen zuständig fühlen, sonst melden sich warnend Angst- und Schuldgefühle: „Pass auf, streng dich an, sonst geht er/sie!“

Im Netz und in der Literatur verweisen viele Sexualtherapeuten auf den inneren Konflikt der Liebespartner hin.

Die meisten Paare haben die Monogamie als Ziel und verbindliche Vorgaben. Natürlich ist das eine Einschränkung und macht Leidenschaft schwerer. Wir möchten nicht die Bedrohung, aber das Begehren.

Das sexuelle Begehren ist jedoch auf Dauer nicht umsonst zu haben. Deshalb wird es, um die Bedrohung zu vermeiden, vorgetäuscht. Und dadurch erweist sich die Lebenspartnerlüge als ein Mittel, eine Beziehung trotzdem zu erhalten. Die Lebenspartnerlüge hat demnach Funktion und Sinn.

Alltägliche Leugnungen haben die gleiche Aufgabe, und sie klingen wie selbstverständlich. Warst du im Bordell? Nein! Bist du mal fremdgegangen? Nein! Hast du eine Geliebte? Nein! Träumst du manchmal davon, fremdzugehen? Nein! An wen denkst du, wenn du onanierst? Natürlich an dich!

Die Lebenspartnerlüge ist alltäglich, und ihre maßgebliche Aufgabe besteht darin, die Beziehung zu stabilisieren. Deshalb ist es in den meisten Fällen nicht der Seitensprung, der die Partnerschaft gefährdet, sondern der gebeichtete oder entdeckte Seitensprung. Auch der One-Night-Stand schadet der Beziehung nicht, sondern das eigene Gewissen, das nun die Angst heraufbeschwört, verlassen zu werden, weil man gegen das eigene Treuegebot verstoßen hat.

Die Lüge verschafft Partnern seit jeher innere und äußere Freiräume und der Beziehung Sicherheit. Ohne Lügen wären viele Ehen und Partnerschaften schon nach kurzer Zeit beendet. Daher wirkt es sich schützend auf die Beziehung aus, dem Partner nicht alle Geheimnisse, nicht alle Fantasien, nicht alle Vorlieben mitzuteilen. Wie in diesem Buch schon erwähnt: „Vielleicht ist es sogar das Geheimnis glücklicher Beziehungen, Geheimnisse voreinander zu haben.“

Man sollte sich das Paradoxon jedoch klar vor Augen halten: Es ist die Lüge, welche die Beziehung schützt. Es ist der Verrat am Ideal, der die Beziehung am Leben erhält. Die Lebenspartnerlüge dient somit restlos überlasteten Lebenspartnerschaften als Krücke. Partner brauchen sie, weil sie etwas von sich verlangen, dass sie nicht dauerhaft erfüllen können. Und deshalb kommt die Lebenspartnerlüge von allen Liebeslügen am häufigsten vor, zumindest so lange, bis das Ideal der „Alles mit einem für immer“ eines Tages in Ruhe sterben darf.

Die Lebenspartnerlüge bringt auch Nachteile, indem sie Konflikte, Distanz oder Krisen entstehen lässt, sobald ihre Täuschungen offenbar werden. Wer in solch einer Krise am Ideal festhält und es der realen Partnerschaft vorzieht, wird so die Trennung verursachen. Und er wird die Schuld am Scheitern der Beziehung beim Partner oder bei sich selbst suchen und nicht beim Ideal.

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