Lüge und Mythos 2
»Weißt du, was man später am meisten bereut – es nicht versucht zu haben.«
(Zitat aus dem Film »Die Farbe des Horizonts«)
Das Thema Sexualität kann man sich in der Partnerschaft manchmal wie einen großen Berg vorstellen. Ist er endlich erklommen, blickt man frei auf die umliegende Landschaft, ohne dass sich ein Hindernis in den Weg stellen kann. Auf der höchsten Spitze des Gebirges weht eben der frischeste Wind. Doch stimmt es wirklich, dass alle Probleme gelöst sind, wenn man im Bett miteinander harmoniert? Oder ist dies eine grobe Vereinfachung, die der Wirklichkeit nicht standhält?
Tatsächlich ist es so, dass sexuelle Probleme für viele Menschen ein zentrales Problem in der Partnerschaft sind. Zwar kann ich dem Gedankengang folgen, mit der Lösung der Sexualprobleme könnten auch alle anderen partnerschaftlichen Probleme gelöst werden. Doch jeder, der bereits einmal eine Beziehung von Anfang bis Ende gelebt und in ihr auch sexuelle Probleme gelöst hat, weiß, wie fragwürdig diese Vereinfachung ist. Viele Menschen stimmen der Feststellung zu, dass eine befriedigende Sexualität wichtig ist. Aber dahinter darf kein Punkt stehen. Das Leben und die Liebe sind mehr. Wer müde ist, möchte nur noch schlafen. Aber wer dann am Morgen aufwacht, der erkennt, dass man nicht alle Probleme im Leben einfach wegschlafen kann. Folgerichtig führt die Lösung des sexuellen Problems auch nicht dazu, dass der gesamte Mensch plötzlich glücklich wird. Und jetzt kommt die Liebe ins Spiel. Genauer gesagt die Liebesfähigkeit des Menschen. Ein wichtiger Faktor in dieser Überlegung ist die Biologie.
Wir alle sind letztlich unseren biologischen Funktionen unterworfen, und doch sind wir Menschen so selbstbewusst zu glauben, wir könnten mit dem Verstand unsere Triebhaftigkeit überlisten. Stattdessen sind wir jeden Tag neu unserem Körper und seiner Sexualität ausgeliefert. Wir haben natürlich die Möglichkeit, diese Tatsache mithilfe unseres Verstandes zu negieren, ändern können wir sie dennoch nicht. Auch wenn wir uns beispielsweise jeden Tag wie ein Mantra nach dem Aufstehen und vor dem Zubettgehen aufsagen, wir bräuchten keinen Sex, spricht der Körper eine andere Sprache. Tag für Tag müssen wir uns mit dem eigenen Trieb aufs Neue auseinandersetzen. Das klingt kompliziert – und, ja, das ist es auch. Und darum benötigen wir etwas, das uns Halt gibt. Ein Konzept, an dem wir uns orientieren können, mit dem wir Halt finden und Stabilität bekommen. Nennen wir dieses Prinzip einfach Liebe. Ohne sich zu lieben, wird es für Paare schwer sein, sexuelle Probleme zu lösen.
Die Liebe ist in diesen Verwirrungen wie ein Kompass, der uns Klarheit bringt. Sexualität fühlt sich ohne Liebe ganz und gar anders an. Es fehlt etwas. Sexualprobleme gelöst, Liebesprobleme gelöst: Dieser Formel kann ich nicht zustimmen. Vielleicht könnten wir es so sagen: Wer seine Liebesprobleme löst, hat auch eine realistische Chance, seine Sexualprobleme zu lösen.
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