Der Orgasmus ist das Ziel der Liebe

Lüge und Mythos 3

Wenn Sie auf der Straße eine Umfrage starten und die Frage stellen, was das Ziel der körperlichen Liebe sei, werden die meisten die Antwort A ankreuzen: der Orgasmus. ‒ In ihm entlädt sich die sexuelle Triebenergie von Mann und Frau. Die sexuellen Funktionen des Körpers sind bei uns Menschen auf den Orgasmus ausgerichtet. Er besiegelt in der Regel das Ende des sexuellen Aktes und ist zudem mit der biologischen Aufgabe der Fortpflanzung verbunden ‒ ein genialer Trick der Natur, um die Erhaltung der Art sicherzustellen. Die Fortpflanzung soll nicht als lästige Pflicht verweigert, sondern als lustvolles Gefühl, gerne und freiwillig erlebt werden. Schließlich entscheidet man sich – vor die Wahl gestellt – lieber für das Vergnügen als für die Arbeit. Indem man den Orgasmus erlebt hat, hat man – aus biologischer Sicht, auch seine sexuelle Aufgabe erledigt. Somit kann das Erreichen des Orgasmus tatsächlich als Ziel der Sexualität definiert werden. Die Liebe bleibt an dieser Stelle zunächst ohne Bedeutung. Sie darf gerne dazukommen, um den sexuellen Akt noch ein wenig zu bereichern und ihn schöner zu gestalten.

Das Ziel der Liebe hingegen ist es, seelische Befriedigung zu finden. Sie hat die Kraft, die sexuelle Lust noch zu steigern und erhöht dadurch die Wahrscheinlichkeit, den Orgasmus zu erreichen. Sie kann es ermöglichen, dass sich nach dem erfolgreichen, mit einem Orgasmus gekrönten Sexualakt noch ein seelisches Glücksgefühl einstellt. Bei einem One-Night-Stand hingegen entsteht dieses Gefühl nicht. Liebe macht das körperliche Erleben zwischen zwei Menschen zu einem Gesamterlebnis, das von vielen Menschen als noch befriedigender und tiefer empfunden wird. Die vorläufige Erkenntnis lautet: Der Orgasmus ist nicht das Ziel der Liebe, sondern das Finale der Sexualität. Man liebt nicht, um einen Orgasmus zu haben. Diese Formel ist wesentlich komplexer. Bei der Sexualität dagegen ist es einfacher. Der Orgasmus wurde erfunden, damit die Sexualität auf ein positives Ziel hinsteuert, das man gerne wiederholen möchte. Liebe ist das Salz, das alles – auch in anderen Lebensbereichen – intensiver werden lässt. Sie ist überall beteiligt. An der Sexualität. Am Lebensglück.

Ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie haben großen Hunger. Nun könnten Sie einfach den Küchenschrank öffnen und das schon trocken gewordene, zwei Tage alte Brot essen, bis das Hungergefühl nachlässt. Sie haben das Ziel erreicht – und doch würden Sie jetzt viel lieber in einem guten Restaurant vor einem Teller mit Ihrem Lieblingsgericht sitzen. Genau so ist das mit der Liebe.

Diese Gleichung funktioniert in vielen anderen Bereichen des Lebens. Sie gehen jeden Tag zur Arbeit, um Geld zu verdienen – wäre es da nicht schön, wenn Sie diese Arbeit gerne ‒ und mit Liebe – tun? Der Mensch fühlt sich immer glücklicher, wenn er etwas gerne und mit der nötigen Portion Liebe tun kann. Wenn Sie abnehmen wollen, sind Sie vielleicht motivierter, wenn Sie am Morgen am Strand dem Sonnenaufgang entgegenlaufen können, anstatt nach Feierabend in einem kargen Fitnessstudio auf einem Crosstrainer vor einer grauen Wand Ihr Pensum zu absolvieren. Nach jeder (nötigen) Handlung, die Sie mit Liebe und Leidenschaft tun, fühlen Sie sich besser. Natürlich geht das alles auch ohne Liebe. Sie können Sex haben, Sie können arbeiten gehen, sie können Sport treiben. Sie können auch die Art erhalten mit einer Person, die Ihnen zutiefst zuwider ist. Aber: Nur die Liebe macht es möglich, dass Sie dabei auch seelische Erfüllung finden.

Schlussendlich bleibt zu diesem Punkt zu sagen, dass Liebe und Sexualität sich gerne verbinden lassen, es aber nicht zwangsläufig tun müssen. In den folgenden Betrachtungen werden wir die Liebe also losgelöst von der Sexualität betrachten, die vorausgegangenen Überlegungen aber immer im Hinterkopf behalten.

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