Tatsachen die man negativ bewertet.
»Weißt du, was man später am meisten bereut – es nicht versucht zu haben.«
(Zitat aus dem Film »Die Farbe des Horizonts«)
Der Paartherapeut und Autor PD Dr. med. Arnold Retzer schrieb ein Artikel in einer Zeitschrift mit dem Titel „Keine Probleme, nur Tatsachen“. In diesem Interview, das in der Zeitschrift „Psychologie Heute“ erschien, spricht er über seine Erfahrungen und Ansichten zur Paartherapie, zur Rolle von Konflikten und Emotionen in Beziehungen und zu seinem eigenen Lebensweg.
PD Dr. med. Arnold Retzer, ein Heidelberger Psychotherapeut, hat diese provokante Aussage getroffen: „Es gibt keine Probleme, es gibt nur Tatsachen.“ Obwohl es auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen mag, hat diese Aussage eine tiefere Bedeutung.
Retzer betont, dass viele vermeintliche „Probleme“ in Wirklichkeit Fakten sind, die wir akzeptieren und mit denen wir umgehen müssen. Anstatt uns von vermeintlichen Schwierigkeiten überwältigen zu lassen, sollten wir uns auf die Realität konzentrieren und pragmatische Lösungen finden.
In der Psychotherapie kann diese Perspektive hilfreich sein. Statt Probleme als unüberwindbare Hindernisse zu betrachten, können wir sie als gegebene Umstände betrachten, die wir akzeptieren und bewältigen können. Dieser Ansatz ermöglicht es uns, effektiver mit Herausforderungen umzugehen und konstruktive Veränderungen vorzunehmen.
Kurz gesagt: Es geht darum, die Realität anzuerkennen und aktiv zu handeln, anstatt uns in vermeintlichen Problemen zu verlieren.
Er plädiert für mehr Realismus und Gelassenheit in der Ehe und kritisiert die Idee, dass Liebe ein Gefühl sei, das man ständig pflegen müsse. Er betont, dass es in der Paartherapie nicht darum gehe, Probleme zu lösen, sondern Tatsachen zu akzeptieren und zu gestalten. Er erklärt, wie er mithilfe von systemischen Methoden und Humor die Kommunikation und das Verständnis zwischen Partnern fördert. Er erzählt auch von seiner eigenen Ehe, die er als eine „Vernunftehe“ bezeichnet, die auf Respekt, Freundschaft und gemeinsamen Interessen beruht.
Die Quellen dazu am Ende des Textes
Hier ein Auszug aus den Aussagen von PD Dr. med. Arnold Retzer
Lassen Sie uns über Ihr Lieblingsthema sprechen: Paarprobleme.
Mich hat in den vergangenen Jahren die grundsätzliche Frage beschäftigt: Was ist eigentlich ein Problem? Paare kommen und sagen, sie haben ein Problem. Etwas verkürzt ausgedrückt: Die Frau sagt, mein Problem sitzt hier neben mir. Wäre der anders, hätte ich kein Problem. Und der Mann sagt dasselbe. Wäre die Frau anders, hätte er kein Problem. Meine These ist: Es gibt keine Probleme, es gibt nur Tatsachen. Diese Tatsachen haben in sich keine Bedeutung, wir sind es, die ihnen eine Bedeutung geben. Und insofern sind wir als Bedeutungsgeber immer mitbeteiligt bei der Konstruktion von Problemen oder Lösungen. Der nächste Schritt war, dass ich ein Problem definiert habe als eine negativ bewertete Soll-Ist-Differenz. Es gibt einen Istzustand, darüber kann man nicht diskutieren, da sitzt er, der Mann.
Und er schaut schon wieder so griesgrämig.
Aber griesgrämig schauen ist nur dann ein Problem, wenn ich die Vorstellung habe, er sollte anders schauen. Das heißt, bei jeder Soll-Ist-Differenz bin ich mit von der Partie als derjenige, der das Problem mit konstruiert. Was ist jetzt meine Aufgabe als Therapeut, Coach, als Problemlöser? Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Die übliche ist, man versucht den Istwert an den Sollwert anzugleichen. Der Mann wird so lange bearbeitet, bis er fröhlich schaut. Die Ergebnisse sind meist nicht so bekömmlich. Der zweite Weg, an den häufig nicht gedacht wird, ist die Veränderung des Sollwertes. Ich könnte mich auch von der Vorstellung verabschieden, wie er in meinen Augen sein soll. Inwieweit verschärfen die Versuche, Lösungen zu erzeugen durch Veränderung des Istzustandes, am Ende das Problem? Das ist die spannende Frage.
Aber es kann doch nicht darum gehen, keine Erwartungen und Wünsche mehr an die Partnerschaft zu haben.
Eine Partnerschaft ist doch kein Heizkörper, den ich herunterregeln kann. Natürlich haben wir Erwartungen, aber die Frage ist, wie gehen wir mit den Ergebnissen der Erwartungen um? Die Erwartungen sind nicht nur einfach Erwartungen, sondern sie sind Anleitungen zum Handeln, zur Veränderung. Aber welche Erfahrungen habe ich gemacht mit meinen Erwartungen? Die Empirie zeigt mir dann, dass es der falsche Weg ist, den Istwert an den Sollwert hochzufahren. Viele sagen sich schon am Hochzeitstag, die drei Macken bekommen wir auch noch hin. Gemeint ist: Dich bekomme ich auch noch hin. Und dann wird daran gearbeitet. Er soll nicht mehr rauchen und soll mehr Sport treiben, sie soll mehr Interesse an Sex haben, mehr Geld verdienen und so weiter. Bei allen Versuchen, diese Veränderung herbeizuführen, kann man möglicherweise Erfolg haben, in meiner Erfahrung als alter Mann habe ich eher den Eindruck, der Erfolg bleibt überwiegend aus.
Weil der Partner sich angegriffen fühlt und erst recht keine Lust mehr hat?
Wenn die Autonomie angegriffen wird, ist Verteidigung angesagt. Je mehr man versucht, den anderen zu verändern, desto verlässlicher bleibt er derselbe. Häufig kommen Klienten in Therapie mit der Erwartung, der Therapeut helfe einem dabei, effektiver den Partner zu ändern. Doch die therapeutische Aufgabe kann darin bestehen, etwas zu ermöglichen, das ich resignative Reife nenne. Das bedeutet, sich die Frage zu stellen, ist es vielleicht mit weniger Leid für mich selbst, den Partner, die Beziehung verbunden, eine bestimmte Erwartung zu reduzieren oder aufzugeben?
Aber wenn unter anderem der Partner kaum noch zur Verfügung steht: Ist es dann wirklich gut, sich von der Erwartung zu verabschieden, dass sich noch mal was verändert? Wäre es nicht besser, zu sagen, das geht so nicht mehr weiter?
Das ist ein schönes Beispiel für resignative Reife. Der Satz „So geht das nicht mehr“ bedeutet, ein Ende zu markieren. Meine Versuche, dich auf Vordermann zu bringen, sind zu Ende. Der Anspruch, für das Glück des Partners verantwortlich zu sein, wird aufgegeben. Das ist für mich ein wunderbares Beispiel für die Veränderung der Erwartung, und zwar nicht das Aufgeben der Erwartung, dass etwas anders werden muss, aber für das Loslassen einer überzogenen Erwartung an sich selbst.
Es geht also nicht darum, zu allem Ja und Amen zu sagen oder sich gar nichts mehr zu wünschen?
Resignative Reife hat Voraussetzungen. Die Voraussetzung ist, dass man Erfahrungen gemacht hat mit seiner Sollvorstellung. Von vornherein zu sagen, hab keine Erwartungen, dann wirst du nicht enttäuscht, heißt, jemandem Erfahrungen zu verbieten. Und das funktioniert nicht. Man muss die Vergeblichkeit bestimmter Erwartungen erlebt haben, damit es Sinn hat, diese Vorstellungen zu verändern. Als mein Buch Lob der Vernunftehe erschienen war, schrieb mir ein Standesbeamter aus dem Schwarzwald, er sei davon begeistert und werde es jetzt allen Paaren, die er traut, schenken. Ich fand das natürlich wunderschön, glaube aber, es nützt nichts. Es ist ja ein Buch, das voraussetzt, dass Erfahrungen gemacht werden. Deshalb bin ich skeptisch, prophylaktisch Erwartungen herunterzuschrauben. Man kann sich nicht auf Vorrat rasieren. Man muss den Bart zuerst wachsen lassen, damit man was zum Rasieren hat. Auch wenn man eine Erwartung reduziert, erwartet einen um die nächste Ecke die nächste Erwartungsenttäuschung.
Erzeugt die Vorstellung, man wisse, wie es geht, wie Leben gelingen soll, vielleicht mehr Probleme und Leid, als man gemeinhin annimmt?
Ja, natürlich. Denn wenn es einem nicht gelingt, hat man etwas falsch gemacht. Lebenskrisen und Unglück wurden schon immer damit erklärt, dass man ein falsches Leben geführt und Schuld auf sich geladen habe: Früher hat man den Fehler gemacht, von Gott abzufallen oder sich widernatürlich, das heißt gegen die Natur verhalten zu haben. Heute hat man dagegen zu wenig positiv gedacht, gefühlt und gehandelt oder ein psychisches Defizit, zu wenig Resilienz oder zu viel Vulnerabilität. Lebenskrisen werden dann oft als Lebens- und Erlebnisveränderungen betrachtet, die so schnell wie möglich wieder richtigzustellen sind und, etwa durch Therapie, rückgängig gemacht werden sollen, damit der ursprüngliche krisenfreie Zustand wiederhergestellt wird. Ein unmögliches Unterfangen. Therapie hat dagegen die Aufgabe, zu erkunden, wie mit irreversiblen Veränderungen umgegangen werden kann. Dazu gehören auch der realistische Blick und die Erkenntnis, dass es nicht mehr so sein wird, wie es einmal war, so traurig diese Erkenntnis auch sein mag. Lebende Systeme – wie das Leben selbst – verändern sich nämlich unumkehrbar. Man braucht nur selbst in den Spiegel zu schauen.
Quellen, wo Sie das veröffentlichte Interview im Detail nachlesen können
- [Arnold Retzer – Wikipedia](https://de.wikipedia.org/wiki/Arnold_Retzer)
- [Lebenslauf – Arnold Retzer](http://www.arnretzer.de/)
- [„Es gibt keine Probleme, nur Tatsachen“ Interview mit Arnold Retzer über Paartherapie, Heizkörper und seinen eigenen Lebensweg in der Psychologie Heute](http://www.arnretzer.de/?Interviews_und_Gespraeche)
- [Dr. Arnold Retzer, Paartherapeut – SWR1 RP – SWR1 - Südwestrundfunk](https://www.swr.de/swr1/rp/leute/aexavarticle-swr-35434.html)