Am schmerzhaftesten ist es, Beziehungen aufzugeben, die niemals stattgefunden haben
Sabine, die immer an die falschen Männer gerät. Ein Fall aus meiner Praxis ist nahezu beispielhaft für das Thema der aussichtslosen Liebe. Sabine, eine Frau Anfang 30, gut situiert und finanziell unabhängig, kam in die Praxis, um dem Problem auf den Grund zu gehen, sich immer die falschen Männer auszusuchen.
Die Beziehung zu einem verheirateten Mann hatte gerade ein Ende gefunden und sie litt furchtbar unter dieser Trennung. Damit sie so etwas nie wieder erleben müsse, wollte sie nun herausfinden, woran es liegt, dass sie sich immer die falschen Männer aussuchen würde.
Ein Blick zurück: Vergangene Beziehungen
In den ersten Sitzungen berichtete Sabine davon, dass sie sich bislang immer mit der Zuverlässigkeit eines Uhrwerkes in verheiratete oder homosexuelle Männer verliebt hatte und einmal sogar in einen Pastor der Gemeinde. Sie verspürte bei all diesen Männern eine besondere Aufregung, wenn sie bangend vor dem Telefon saß und nicht wusste, ob sie einen Rückruf erhalten würde. Alle Männer, die sich in sie verliebten, charakterisierte sie als „langweilig“, „spießig“ oder „zu anhänglich“. Sie wollten zu schnell eine feste Bindung eingehen, einer sprach nach 6 Monaten Beziehung sogar schon von Hochzeit und Kindern. Ihre Sehnsucht nach Abenteuer, nach Spontaneität und nach dauerhafter Leidenschaft konnte keiner dieser Männer erfüllen.
Was wirklich dahintersteckte
Anfangs klang diese Zuverlässigkeit, mit der Sabine immer entweder an Männer geriet, die ihre Sehnsüchte nicht erfüllen konnten oder an solche, die unerfüllte Sehnsucht in ihr auslösten, nicht erklärbar.
Wir wagten ein Gedankenexperiment. Was würde passieren, wenn einer dieser begehrten und unerreichbaren Männer diese Leidenschaft und die Sehnsucht auf einmal erwidern würde? Sabine gestand sich ein: Sie wisse nicht, ob er dann immer noch so begehrenswert für sie sein würde.
Auf diese Weise fanden wir heraus, dass der erotische Reiz für Sabine immer genau dann ausgelöst wurde, wenn eine sich anbahnende Liebe garantiert in einer unerfüllten Sehnsucht enden würde. Oftmals liegen die Gründe für derartige Verhaltensmuster in der Kindheit. So auch bei Sabine. Sie wuchs in einer scheinbar idyllischen und funktionierenden Familie mit Mutter, Vater und einem Bruder auf. Allerdings bestand die Ehe der Eltern nur noch aus dem Schein, den sie nach Außen hin zu wahren versuchten. Der Vater hatte längst eine andere Partnerschaft und war nur noch an den Wochenenden zuhause, die Mutter ertränkte den Schmerz darüber in Selbstmitleid und Depression. So übernahm Sabine schon in jungen Jahren sehr viel Verantwortung für ihren kleinen Bruder. Sie brachte ihn in den Kindergarten, holte ihn wieder ab, spielte mit ihm, brachte ihn ins Bett und schmierte ihm morgens Marmeladenbrot.
Später zog sie auch immer die Freundinnen aus schwierigen familiären Verhältnissen an, um die sie sich ebenfalls kümmerte. Dafür erntete sie Bewunderung und Dankbarkeit.
Pretty Woman und Notting Hill
Sabine sah leidenschaftlich gerne Hollywoodfilme wie Pretty Woman oder Notting Hill. Selbst die aussichtsloseste Liebe schien also doch ein glückliches Ende haben zu können. In der Pubertät verliebte sich Sabine rasant, intensiv und leidenschaftlich – in den Astronomielehrer, in den gut aussehenden Jungen aus der Oberstufe, in die Rockstars, deren Poster in der Bravo steckten. Natürlich wurde kein einziges Gefühl erwidert. Sabine hatte einige Liebeleien mit pubertierenden Jungs, aber ohne dabei jemals tiefere Gefühle zu empfinden. Ihr Blick richtete sich immer nach den Unerreichbaren.
Nach dem Abschluss versuchte sie, Kontakt zu ihren einstigen Schwärmen aufzunehmen, die mittlerweile fast ausnahmslos verheiratet waren und Kinder hatten. Einmal klappte es sogar – sie hatte eine kurze Affäre mit einem der einstigen Liebschaften, aber die war so schnell wieder vorbei, wie sie begonnen hatte.
Die letzte große, unerreichbare Liebe
Ihre letzte und unerreichbare Liebe lag nun gerade einmal ein paar Wochen zurück. Sie hatte es als ihre große Liebe empfunden und beschrieb den Mann als ihren Traummann, der sie garantiert für immer glücklich machen konnte. Er traf sich regelmäßig zweimal in der Woche mit ihr, brachte Blumen mit und war so leidenschaftlich, wie sie es noch nie erlebt hatte.
Sie mied das Thema, dass er eigentlich verheiratet war und ging automatisch davon aus, dass er ihre leidenschaftlichen Gefühle schon irgendwann erwidern würde. Mit der Konsequenz einer Trennung von der Familie. Versprochen hatte er Sabine das allerdings nie.
Sabine versuchte, die wachsende Beziehung zu forcieren, buchte auf eigene Faust einen Urlaub und nahm die Dinge in die Hand. Allerdings ging dieser Plan nicht auf. Je mehr Eigeninitiative Sabine entwickelte, desto mehr zog sich der Mann zurück. Irgendwann fand sie sich nachts sogar vor seinem Haus wieder und fing ihn ab, als er den Müll rausbrachte. Danach beendete er die Verbindung und Sabine litt, wie sie noch nie gelitten hatte.
Das war der Status quo, als sie meine Praxis aufsuchte.
Der Fall Sabine und warum wir nicht daraus lernen
Bei aller Nachvollziehbarkeit der Motive, die Sabine immer wieder dazu treiben, sich in einen unerreichbaren Mann zu verlieben, stellt sich natürlich die Frage: Warum hat sie nichts daraus gelernt?
Der Mensch ist eigentlich so konditioniert, dass wir aus Fehlern lernen. Fasst das Kind einmal auf die berühmte heiße Herdplatte, wird es das mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht wieder tun. Wohingegen aber Frauen (oder Männer), die sich immer wieder in den vergebenen Mann verlieben, es auch immer wieder zu tun scheinen.
Die Lösung besteht darin, dass die Muster sehr einfach funktionieren. Denn es gibt doch so eine Art Erfüllung darin, immer wieder diese fast schon schmerzhafte Leidenschaft zu erleben, ekstatische Gefühle, die in einer klassischen Paarbeziehung so gut wie gar nicht entstehen. Die meisten ziehen aus den unerfüllten Beziehungen irgendwann die Lehre, dass sie ihr Beziehungsmuster ändern und sich auf gesündere Beziehungen einlassen. Bei anderen gelingt dies allerdings nicht.
Es entstehen manchmal problematische Beziehungsmuster, die sogar pathologische Formen annehmen und als Liebessucht bezeichnet werden. Bei Sabine liegt die Ursache für diese Sucht in der Suche nach Liebe in ihrer Kindheit. Die Liebe ihres Vaters und ihrer Mutter war unerreichbar für sie und trotzdem sehnte sie sich danach. Später verliebte sie sich automatisch ebenfalls in Menschen, die unerreichbar für sie waren.
Sie suchte sich automatisch immer die Position des sehnsüchtigen Partners aus – obwohl sie eigentlich nach der traumatischen Kindheitserfahrung einen Partner brauchte, der sie bedingungslos liebte und nicht nur „fast“.
Kein Einzelfall
Sabines Dilemma ist kein Einzelfall. So wie ihr geht es vielen Millionen Menschen, die sich immer nach demselben Muster ins Unglück stürzen. Diese Menschen suchen ganz unbewusst nach einer Person, die ihrem „Peiniger“ aus der Kindheit ähnlich ist. Kinder, die geschlagen werden, suchen sich mit einiger Wahrscheinlichkeit auch einen Partner aus, der sie schlägt. Ihren Schmerz verwandeln sie in Leidenschaft. Es ist für die Betroffenen schwer, aus ihrem Schema herauszuwachsen. Oft kann in dieser Situation nur eine professionelle Beratung helfen.
Nachtrag: Wie geht es Sabine heute?
Sabine konnte ihren Schmerz über die Trennung überwinden und ist bis heute – 1 Jahr nach der letzten Beratung in meiner Praxis – keine neue Partnerschaft mit einem unerreichbaren Mann eingegangen. Aktuell lebt sie noch nicht in einer erfüllten Paarbeziehung, allerdings hat sie einen Mann kennengelernt, mit dem sie sich trifft und der für sie erreichbar ist. Sie kann sich vorstellen, dass sich daraus etwas Ernstes entwickelt.
Sabine - Meisterin der Sehnsucht